Nachteule-Tabitha blubbrt
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Zwischen Pasta, Schiffen und Tintenfischen: Vier Wochen in Italien

Nachteule-Tabitha
03.05.2019

Ich bin spät auf. In meinem Bett drehe ich mich hin und her und versuche, endlich einzuschlafen. Vergeblich. In meinen Gedanken bin ich hellwach, stehe auf einer kleinen Piazza direkt am Hafen. Eine Straßenlaterne verströmt gelbes, warmes Licht und das Getöse der an den Landungssteg reibenden Wellen wird von dem Gitarrenspiel und dem Gesang einer sizilianischen Straßenband übertönt.

In der Luft liegt Salz und der Duft von Orangen, die in dem kleinen Café gleich nebenan als eisgekühlte Granita verkauft werden. Ich bin umgeben von Menschen, die unter einem Himmel tanzen, der von Sternen übersät ist. Keine Wolke ist zu sehen, und es legt sich noch immer die Wärme des Tages auf meine nackte Haut. Lediglich der Gesang der Band sorgt dafür, dass sich auf meine Arme und Beine eine Gänsehaut gelegt hat. Ich bin, obwohl ich in Wirklichkeit doch zuhause im Bett liege, fernab in einer anderen Welt. Einer Welt, von der ich nicht gedacht hätte, dass sie sich so stark von meiner eigenen, von allem bisher bekannten, unterscheiden würde. Doch es war so.

Knapp fünf Wochen ist es her, dass ich mit einem Rucksack und mir selbst losgezogen bin, um ein anderes Land zu entdecken. Ich habe gehofft, auf Menschen zu treffen, die mir ihre Geschichte erzählen. Ich habe mich darauf gefreut, in der weiten Ferne auf mich selber zu treffen. Womit ich nicht gerechnet hätte, war, dass ich in etwas eintauchen würde, dass ich so noch gar nicht kannte. Etwas, dass so intensiv war, dass es jetzt, zurück zuhause, eine Art von Jetlag in mir auslöst, obwohl mein Reiseziel ebenso in der mitteleuropäischen Zeitzone liegt wie mein Zuhause. Zumindest mein Lebensrhythmus hat sich deutlich verschoben, und das in einem Land, dass uns Deutschen doch eigentlich so bekannt ist: Italien.

Seit langer Zeit ist Italien ein beliebtes Urlaubsland für ganz Europa. Neben der geographischen Vielfältigkeit, bestehend aus Gebirgen, Küsten und Inseln, ist das mediterrane Klima, das warme bis heiße, sonnige Sommer beinhaltet, ein großer Faktor. Der Internetseite Statista zufolge lag Italien bei deutschen Touristen sowohl für die Urlaubssaison 2017 als auch für 2018 auf Rang zwei im Vergleich zu allen europäischen Ländern – direkt hinter Spanien. Urlaub, das bedeutet in erster Linie Erholung, wohingegen Neues und Ungewohntes für viele Menschen ein Stressfaktor ist. In Italien scheint vieles aber vertraut: Pizza, Pasta und Eis ist nicht exotisch genug, um eine große Überwindung darzustellen. Die Menschen, die im Tourismussektor arbeiten oder uns auf der Straße begegnen, sind fröhlich und aufgeschlossen und haben eine entspannende Wirkung auf uns. Das Dolce Vita scheint an jeder Ecke zu warten und verleiht Italien damit paradiesische Züge. Wir denken: Hier zu leben muss ein Traum sein.

1. September 2018. Mein ganz eigener Italian Dream geht in Erfüllung, als ich, bepackt mit einem Rucksack der größer ist als ich selbst, einen Bus besteige, der mich geradewegs nach Italien bringt. Ich werde für vier Wochen auf den Äolischen Inseln, nordöstlich von Sizilien verbringen. Bei allen Italienaufenthalten zuvor habe ich unter Hoteldächern und zwischen den Wänden unseres Wohnwagens davon geträumt, einmal wirklich in Italien zu leben. Durch die zis-Stiftung, von der ich in einer anderen ebenso schlaflosen Nacht bereits einmal berichtet habe, kann ich diesen Wunsch umsetzen.
30 Tage zwischen Italienern reichen, um festzustellen: Italien ist viel mehr als ein Urlaubsland, und es ist mir längst nicht so vertraut, wie ich geglaubt habe. Nicht einmal Italien als Land kann in seiner Kultur, Mentalität, Landschaft und Wirtschaft zusammengefasst werden. Zwischen dem Norden und dem Süden gibt es große Unterschiede bis hin zu Unabhängigkeitsbestrebungen. Deswegen muss ich korrekterweise festhalten, dass ich das Leben in Süditalien kennengelernt habe. Und lieben. Weil es nämlich sehr, sehr anders ist als Deutschland.

Natürlich beginnt das beim Wetter. Einer der triftigen Gründe, wieso wir im Sommer gen Süden fahren. Je nach Reliefsform und Küstennähe gibt es Unterschiede, aber die meist angesteuerten Ziele, die Küsten, sind von mildem Mittelmeerklima geprägt. Sprich: lange, warme, sonnenreiche Sommer. Im Winter fällt an den Küsten viel Regen, Schnee ist – anders als in weiten Teilen Deutschlands – eine Besonderheit. Ich habe zehn Tage auf der Vulkaninsel Stromboli gelebt. Viel gibt es dort nicht – nur kleine Gassen, Autos mit drei Rädern, viele Gärten und Gestrüpp, und den aktiven Vulkan hoch über den beiden Dörfern Ginostra und Stromboli. In dieser Zeit ist mir aufgefallen, wie sehr die Menschen hier im Einklang mit der Natur leben, die sie umgibt. In aller erster Linie ist das das Meer, ihr täglicher Begleiter. Es birgt Schätze wie Fische, aber es ist auch eine physische Distanz, die es zu überwinden gilt. Ich habe selbst erlebt, wie während einer Sturmflut keine Schiffe und Tragflügelboote mehr abfahren können. Man verharrt tagelang auf den Inseln und sieht zu, wie die Wellen bis auf die Straße rollen.

Auch abgesehen von Tagen wie diesen wird der Tagesrhythmus, anders als in Deutschland, stark von der Natur bestimmt. Die Fischer stehen mit der Sonne auf, um ihre Boote bereit für den Tag zu machen. Um die Mittagszeit ist es so heiß, dass es zumeist keine große Mahlzeit gibt. Darauf folgt die Siesta, von etwa 13 bis 16 Uhr herrscht Ruhe und die Geschäfte schließen ihre Türen. Die Hitze lässt keine großen Arbeiten zu. Dementsprechend nach hinten verschoben ist auch der Feierabend. Woraus wiederum folgt, dass das große Abendessen, wie in anderen Südländern auch, erst um neun oder zehn Uhr beginnt.

Apropos Essen. Ja, Italien ist das Land der Pizzen und der Nudeln, und das ist mir auch in meiner Zeit in Italien sehr bewusst geworden. Sei es die Einbildung oder tatsächlich die Zusammensetzung – italienische Pasta schmeckt definitiv anders als in Deutschland. Das liegt aber vor allem auch daran, dass sie hier al dente gekocht werden, sprich: ziehe zwei Minuten von der auf der Packung angegebenen Kochzeit ab und du kannst deine Pasta genüsslich zerkauen. Steht man in italienischen Supermärkten vor dem Nudelregal, wird einem bewusst, wie viele Unterschiede es in Sachen Formen, Inhalt, Zubereitung und Darreichung gibt. Pasta ist nicht gleich Pasta, auch was die Soßen und Beilagen angeht, gibt es noch einmal unheimlich viele verschiedenen Varianten. Das Selbe gilt für die Pizza: Beläge in allen denkbaren Kombinationen.

Spätestens nach drei Mahlzeiten mit meiner Gastfamilie auf Stromboli wurde mir bewusst: italienisches Essen ist viel mehr als Pizza und Pasta. Hier kommt wieder die Natur ins Spiel. In einem mediterranen Land sind Meeresfrüchte und Fische ein großer Bestandteil der Esskultur: Austern, Hummer, Krebse, Fisch in allen möglichen Gattungen und sogar Tintenfisch. Obwohl ich seit nunmehr 10 Jahren vegetarisch lebe, kam ich nicht umhin, letzteres einmal zu probieren. Und obwohl ich mich vermutlich nicht einmal mehr richtig an mein letztes Schnitzel erinnern kann, wage ich zu behaupten, der Tintenfisch schmeckte ähnlich – und auf jeden Fall gut! Unter den günstigen Klimabedingungen und dank des fruchtbaren Bodens auf den Vulkaninseln landen zusätzlich auch Früchte wie Zitronen, Passionsfrucht, Kaktusfeigen, Orangen, Macadamia-Nüssen und Kapern täglich auf dem Teller – in ihrer Ursprungsform, als Marmelade, Aufstriche und Salate.

Diese Mahlzeiten bedeuten für die Süditaliener das Ende eines langen Tages und der Beginn einer noch längeren Nacht. Oft kommen Freunde und Familienmitglieder, an einem großen Tisch wird zusammengesessen und geredet. Abende wie diese in meiner Gastfamilie haben mich spüren lassen, wie groß die Unterschiede zwischen mir und den Süditalienern sind, obwohl doch Europa eine große Wertegemeinschaft ist und die Unterschiede zwischen den einzelnen Nationen zunächst klein scheinen – zumindest wenn man sich nicht ständig an Klischees bedient. Zumindest eines dieser Klischees stimmt in jedem Fall: Südländer sind so temperamentvoll.

Würde man meine Eltern fragen, sie würden mich – mit rollenden Augen – ebenfalls als temperamentvoll bezeichnen, aber gegen die Menschen, denen ich auf meiner Reise begegnen durfte, bin ich ein stilles Mäuschen. Es fing schon an, als mein erster Flixbus von Ulm nach Verona zwei Stunden zu spät ankam, weshalb ich meinen Anschlussbus nach Neapel verpasst habe. Meine Mitstreiterinnen, die das selbe Problem hatten, waren zwei Frauen mittleren Alters aus Neapel. Dass sie dort auch schnellstmöglich hin wollten, teilten sie dem Mitarbeiter von Flixbus in einer derartigen Lautstärke und mit so viel Nachdruck mit, dass ich nur noch sprachlos daneben stand. Niemals hätte man ihnen so eine Energie angesehen. Auch während meine Gastfamilie sich abends mit Freunden traf, hatte ich anfangs ständig den Eindruck, ich säße inmitten eines großen Streits über weiß Gott was. Alle fuchtelten sie mit den Händen und übertönten sich gegenseitig, und es dauerte eine ganze Weile und einige Gespräche mit meiner Gast-Großmutter bis ich begriff, dass es sich dabei um ihre normalen Unterhaltungen handelte. Am Ende dieser Unterhaltungen sagten sich alle immer friedlich und freundlich gute Nacht und verschwanden. Und ich? Blieb zurück und fragte mich, ob ich im Herzen vielleicht auch Italiener war, weil mir solche Diskussionen deutlich besser gefielen als die "Sag ja nichts falsches und wenn ja nicht zu laut"-Gespräche in Deutschland.

Das Temperament und die Ausgelassenheit der Süditaliener beschränkt sich nicht auf den Umgang untereinander. Auf Lipari, der größten Insel des Archipels, habe ich jene Straßenfeste miterlebt, die mich auch Wochen später eben noch spät auf sein ließen. Bei allen fand ich mich früher oder später in einer zur Musik tanzenden Menge wieder. Was mich daran so beeindruckt hat war, dass Alkohol bei diesen Festen keine Rolle gespielt hat, einfach nicht vorhanden war. Ohne in irgendeiner Form wertend sein zu wollen kann ich festhalten, dass das da wo ich wohne gelinde gesagt undenkbar wäre.

Undenkbar ist allerdings auch, dass auf diesen Inseln jemals irgendein Bus pünktlich die Haltestelle ansteuert. Man könnte auch sagen, die Busse hier fahren wie Nena: Irgendwie, irgendwo, irgendwann. Eventuell gibt es hier Parallelen zu einer hiesigen Institution mit dem Namen Deutsche Bahn, und so fühlte ich mich direkt heimisch dabei, eine halbe Stunde auf den angeblich in zwei Minuten fahrenden Bus zu warten. Ähnlich verhält es sich mit den Booten. Zwischen den einzelnen Inseln verkehren Hydrofoils, also schnelle Tragflügelboote von einer Reederei namens LibertyLines. LibertyLines ist dann wohl das Pendant zu unserem regionalen Busnetz (tut mir Leid, aber acht Jahre Schulbus-Erfahrung prägen sich ein). Jedenfalls stand ich eines frühen Morgens am Landungssteg von Stromboli und wartete auf mein Tragflügelboot, das mich nach Lipari bringen sollte. Schade nur, dass zwei Minuten vor Abfahrt noch kein Boot am Horizont zu sehen war. Völlig panisch schrieb ich meiner Freundin aus Lipari, dass offensichtlich das Boot heute nicht fahren würde. „Hahaha,“ lautete ihre Antwort. „Welcome to Sicily.“ Und danach: „Don´t worry. It will -for sure- arrive.“ Das war dann wohl der Moment, in dem ich realisierte, dass ich – trotz ähnlicher Schulbus-Erfahrung – durch und durch Deutsch bin und mich demnach an Uhrzeiten klammere. In Süditalien ist eine halbe Stunde später völlig legitim, egal ob es um Arzttermine, Abfahrtszeiten oder Dates geht.

Wenn man sich dann doch einmal in einem Bus befindet, erlebt man hautnah, was den italienischen Verkehr ausmacht. Das Geheimnis dahinter: Regeln gibt es nicht. Ganz nach dem Motto: „Ich mach mir die Welt wie sie mir gefällt“ werden einspurige Kreisverkehre in zweispurige verwandelt, Vorfahrtsregeln spontan zu den eigenen Gunsten umgeändert und Außenspiegel wieder ausgeklappt, nachdem sie durch unsanfte Berührungen mit der Mauer am Fahrbandrand eingeklappt wurden. Jemand hat mir einmal gesagt: „In Deutschland hält man sich an die Regeln, in Italien schaut man, dass keiner stirbt.“ Deswegen konnte ich dennoch relativ entspannt am Verkehrsleben teilnehmen. Und ich glaubte erneut an ein italienisches Gen in mir, als ich die vielen Autos entdeckte, die mit Klebeband, Dellen und Kratzer im Lack umher fahren. In Deutschland, das ist mein fester Eindruck, sind Autos eine Art Statussymbol und Gebrauchsspuren absolut unerwünscht. Hier muss das Ding einfach nur fahren, und so sehe ich das mit meinem Auto auch (weshalb ich dann und wann Mülleimer anfahre und Mauern schramme, ich sags ja, in Wirklichkeit bin ich einfach nur Italienerin).

Jetzt, zurück in Deutschland, fällt mir die Umgewöhnung im Verkehr am Schwersten. Noch immer nutze ich die nächstbeste Situation, die Straße zu überqueren, anstatt einen sicheren Moment abzuwarten oder den nächsten Zebrastreifen anzusteuern. Weder das eine noch das andere waren auf Lipari wirklich existent, sodass man einfach nur los marschieren und an sein eigenes Überleben glauben musste. Diese etwas andere Form von Gelassenheit bin ich noch genauso gewohnt wie die generelle Lebensweise der Menschen, die mich umgeben haben: die Entspanntheit, die Ruhe und die Zuversicht, gleichzeitig die Offenheit und Ausgelassenheit.

Wäre ich, wie während allen Urlauben davor, unter meinen eigenen Familien und Freunden und in einem Hotelzimmer oder Wohnwagen geblieben, hätte ich davon wohl nicht allzu viel abgekriegt. Dieser Ländercheck, der Sprung ins kalte (Meer)wasser und in diese doch so andere Kultur hat mir gezeigt, wie wichtig und bereichernd es ist, über den eigenen, vertrauten Lebensraum hinaus Erfahrungen zu machen. Erfahrungen, die so schön sind, dass man auch Wochen später noch von ihnen träumt, nachts, wenn man eigentlich schlafen sollte. Aber das sind sie wert, oder etwa nicht?

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